Der Bauer und die Ziege

Der Bauer und die Ziege

1920 942 Noureddine Belhaouari

Es war einmal ein einfacher Bauer, der nie Glück mit den Ziegen hatte, die er züchtete. Er verlor sie alle auf die gleiche Art und Weise: Er band sie an eine Schnur, doch sie konnten dem Ruf der Freiheit nicht widerstehen und flohen in die Berge, dort wo der Wolf auf sie wartete. Weder die Dunkelheit noch die Angst vor dem Wolf konnten sie zurückschrecken. Sie waren alle entschlossen, koste es, was es wolle, in die Wildnis und in die Freiheit zu gehen.

Trotz aller Verluste ließ sich der Bauer nicht entmutigen und holte sich dieses Mal eine junge Ziege. Der Bauer dachte, wenn er eine junge Ziege züchte, würde sie sich an ihn gewöhnen und nicht mehr fliehen.
Ah! Wie schön war die kleine Ziege des Bauern! Mit ihren sanften Augen und den glänzend schwarzen Hufen verzauberte sie jeden, der sie anschaute. Sie war zahm und sehr anhänglich. Sie ließ sich, ohne sich zu bewegen, leicht melken, kurzum sie war eine liebe Ziege.
Er band sie am schönsten Platz auf der Wiese an einen Pfahl und von Zeit zu Zeit kam er, um zu sehen, ob es ihr gut ging. Die Ziege weidete ungestört und war sehr glücklich. Der Bauer freute sich darüber: „Endlich eine Ziege“, dachte der Arme, „die sich nicht langweilt.“
Eines frühen Morgens, als er die Ziege melken wollte, wandte sie sich um und sprach zu ihm: „Hören Sie, mein Herr, ich langweile mich hier bei Ihnen. Lassen Sie mich in die Berge gehen…“
„Ah! Mon Dieu! Auch sie…!“ Schrie der Bauer erstaunt und ließ den Milcheimer fallen. Danach kniete er sich vor seine Ziege und fragte sie:
„Wie? Willst auch du mich verlassen?
„Ja, mein Herr“.
„Hast du nicht genug Gras hier?“
„Oh! Doch, mein Herr!“
„Ist dir die Schnur vielleicht zu kurz? Soll ich sie verlängern?“ 
„Es ist nicht nötig, mein Herr.“
„Also, was willst du noch mehr?“

„Ich möchte in die Berge gehen, mein Herr.“
„Hör zu, ich muss dir leider sagen, dass in den Bergen der Wolf haust. Was wirst du tun, wenn er kommt?“
„Ich werde ihn mit meinen Hörnern besiegen, Herr.“
„Der Wolf wird sicher über deine Hörner spotten. Er hat meine Ziegenböcke gefressen, die gehörnter und stärker waren als du. Weißt du noch, die arme alte Ziege, die hier im letzten Jahr war? Eine richtige Dame, kräftig und frech. Sie kämpfte die ganze Nacht mit dem Wolf. Doch am nächsten Morgen hat er sie gefressen.“
„Schade! Die Arme! … Aber macht nichts, Herr, lassen Sie mich in die Berge gehen.“
Da schloss der Bauer seine Ziege im Stall ein. Doch er vergaß das Fenster zu schließen.
Als die schöne kleine Ziege die Berge erreichte, war ihre Freude sehr groß. Nie zuvor hatten die alten großen Tannenbäume, die sie wie eine kleine Königin empfingen, so eine schöne und anmutige Ziege gesehen. Die Kastanienbäume verbeugten sich vor ihr und streichelten dabei ihr schönes weiches Fell. Sie stolzierte zwischen den Bäumen umher, und der ganze Berg teilte ihre Freude.
Keine Schnur, kein Pfahl mehr, nichts hinderte sie daran, zu weiden und sich frei zu bewegen. Die schöne kleine Ziege, halbtrunken und berauscht von den verschiedenen Gräsern, die mit Laub und Kastanien vermischt waren, wälzte sich und rollte den Hang hinunter. Sie spielte den ganzen Tag und genoss ihre Freiheit. Es war ein guter Tag für die kleine Ziege des Bauern.
Plötzlich frischte der Wind auf. Der Abend brach herein und der Berg wurde violett. „Schon!», staunte die kleine Ziege und hielt inne. Die schönen Felder im Tal und das kleine Haus vom Bauern verschwanden allmählich im Nebel. Man sah nur noch die dünnen Rauchschwaden, die vom Dach des Bauern emporstiegen. Die kleine Ziege hörte noch die Glocken einer Ziegenherde, die man in den Stall zurücktrieb, und war plötzlich sehr traurig.
Von den Bergen ertönte auf einmal ein Schrei: „Hou! Hou!“ Es war der Wolf. Die Arme dachte nun an den Wolf, den sie den ganzen Tag über vergessen hatte. In demselben Augenblick hörte sie im weiten Tal das Rufhorn des Bauern, der die letzte Chance vergeblich zu nutzen versuchte.
Die kleine Ziege wollte zurückkehren, doch sie dachte an die Schnur und an den Pfahl, dann entschied sie sich zu bleiben und dem Wolf die Stirn zu bieten, denn sie konnte sich das Leben bei dem Bauern nicht mehr vorstellen.
Das Rufhorn ertönte nun nicht mehr. Dann herrschte eine erschreckende Stille über den ganzen Bergen. Nach einer kurzen Weile hörte die kleine Ziege ein Geräusch hinter sich. Sie drehte sich um und sah zwei gespitzte Ohren, die im Hinterhalt auf sie lauerten. Es war der Wolf. Riesig und unbeweglich saß er auf seinen Pfoten und beobachtete sie geduldig.
Die arme kleine Ziege kämpfte die ganze Nacht tapfer gegen den hungrigen Wolf. Sie mit ihren kleinen Hörnern und er mit seinen scharfen Zähnen und Krallen.
Ein Hahn krähte in der Ferne und kündigte das Hereinbrechen des Morgens an. Ein schwaches Licht zeigte sich am Horizont und die arme kleine Ziege, deren schönes Fell mit Blut befleckt war, lag erschöpft auf dem Boden.
Der Wolf konnte es kaum erwarten und fraß sie*.

4 Kommentare
  • Ahmed Ben Amara 5. März 2021 am 20:16

    Hallo, dies ist ein Kommentar.
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  • Noureddine Belhaouari 9. März 2021 am 23:03

    „Zu früh“, denk ich. Kaffee- und Muffin-Duft dringt in meine Nase. Er kündigt mir das Ziel meines frühabendlichen Ausflugs an. Nach 50 Metern vernehme ich das typisch dumpfe, aber konstant laute Murmeln: vor allem weibliches Lachen, dazu männliche Geschäftigkeit und kindliches Fordern. Die glatten Bodenplatten des Eingangs weisen mir den Weg. Die Kugel am Ende meines weißen Stockes rollt gleichmäßig von links nach rechts vor mir her, links, rechts, links, rechts, links, rechts.

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